Der Flucht muss eine Perspektive folgen

Veröffentlicht am 13.06.2016 in Integration

Einige bildungspolitische Überlegungen zu den Integrationsbemühungen der Politik

von Orkan Özdemir

Dieser Artikel erschien zuerst in der BBZ (Berliner Bildungszeitschrift) SIEHE HIER

 

Es ist ohne Zweifel löblich und fast schon revolutionär, wenn der Chef der Berliner Industrie und Handelskammer Eric Schweitzer auf das Potential der geflüchteten Menschen aufmerksam macht und für sie die Marschrichtung Arbeitsmarktintegration ausgibt. Das Problem im Kontext der Arbeitsmarktintegration ist ein bekanntes: »Wir wollten Arbeitskräfte und es kamen Menschen«.

 

Qualifikationen nutzen und sie ermöglichen

Im Zuge der Krisen weltweit kommen täglich hunderte Menschen mit akademischem Grad und/oder einer soliden Ausbildung und viel spezifischer Arbeitserfahrung nach Deutschland. Politik und Verwaltung handelt des Öfteren nach dem Motto »Jeder muss mal groß anfangen«. So ist die Ausschöpfung dieser Potentiale das große Ziel der Landesregierungen.

Warum auch nicht: Null Investitionskosten und volle Ausschöpfung. Im Zuge dieser Entwicklungen wurden die Prozesse der Anerkennung ausländischer Hochschul- und Berufsausbildungen in Land und Bund vorangetrieben. Länder wie Berlin implementieren sinnvolle Qualifizierungskonzepte wie beispielsweise Arrivo (Ausbildungs- und Berufsinitiative zur Integration von geflüchteten Menschen in den Berliner Arbeitsmarkt). Der Wunsch, Menschen mit Qualifikationen eine Perspektive im Ankunftsland zu geben, sei es auch aus marktwirtschaftlichen Gründen, ist nicht unmoralisch oder gar selektiv, solange das Asylbestreben nicht auf Basis dieser Faktoren erörtert wird.

Kurzfristig kann die Abschöpfung durch Arbeitsmarktintegration dieser hoch- und mittelqualifizierten geflüchteten Menschen positive Effekte zum einen auf die Wirtschaft und Industrie haben, und zum anderen sind Positivbeispiele der Arbeitsmarktintegration gut für die Stimmung unter den BürgerInnen des Landes. Während die Politik diese wichtigen Anstrengungen vornimmt, wird jedoch etwas Entscheidendes vergessen: Die Gruppe der hoch- und mittelqualifizierten macht schätzungsweise lediglich ein Viertel bis ein Drittel der geflüchteten Menschen aus, die zu uns kommen. Die weit wichtigere und größere Gruppe sind Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter. Rund 50 Prozent der schutzsuchenden Menschen sind unter 18 Jahren!


Chancengleichheit statt alter Fehler

Das Land befindet sich in einer historisch hochinteressanten Phase. Deutschland, und ganz besonders Ballungsräume wie München, Hamburg und Berlin werden in den nächsten Jahren bemerkenswerte Entwicklungen durchmachen. Die Gesellschaft wird sich verändern. Zurzeit befinden sich rund 50.000 bis 60.000 geflüchtete Menschen allein in Berlin. Davon sind rund 25.000 Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter. Die Anzahl neuer Geflüchteter nimmt derzeit ab, man wird jedoch davon ausgehen müssen, dass weiter Menschen zur Flucht, auch nach Berlin, gezwungen sind. Bei dieser Entwicklung und den Eingliederungs-Erfahrungen mit den ArbeitsmigrantInnen der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts ist eine kritische Sichtweise auf die anstehenden Herausforderungen geboten und notwendig.

Es ist erstaunlich wie sehr sich die Unterbringungs- und »Teilhabe«-Maßnahmen der geflüchteten Menschen und der ArbeitsmigrantInnen der 60er und 70er Jahre ähneln. Wohnortzuweisungen, Beschäftigungseinschränkungen und Schulplatzunterbringung sind hierbei nur einige wenige Schlagworte. In den letzten Jahren wurde immer und immer wieder die schwache Integrationsleistung der zweiten und dritten Einwanderergeneration thematisiert. Viele kritische Analysen und unabhängige Studien haben gezeigt, dass die Schulsysteme der Länder nicht im Stande sind mit Diversität in ihren Strukturen umzugehen. Dieser mantraartige Einwand von WissenschaftlerInnen, als auch ExpertInnen hat sich als Endlosschleife im öffentlichen Diskurs lähmend manifestiert. Das Land Berlin reagierte auf diese und weitere bildungspolitische Kritik mit der Schulstrukturreform in 2011. Das Ziel dieser Reform war es, die Durchlässigkeit von der sogenannten Hauptschule bis zum Abitur zu erhöhen, indem alle Kinder bis zur zehnten Klassenstufe mehr oder minder zusammen lernen sollten. Ganz davon abgesehen, ob diese Konzeption sinnvoll umgesetzt wurde, kann man im Zuge der Strukturreform von einem progressiveren Grundgedanken nach skandinavischem Modell ausgehen.

Auch die Schulstrukturreform, die ursprünglich als Ziel die Chancengleichheit im Bildungssystem zugrunde liegen hatte, hat nicht den erwünschten Reformprogress im Kontext der Ertüchtigung des Schulsystems für eine vielfältige SchülerInnenschaft gebracht. Diese Ertüchtigung ist jedoch einer der Zentralen Faktoren damit aus einem »Flüchtlingsproblem« kein »Integrationsproblem« auf mittel- und langfristige Sicht wird.

Vielfalt als Bildungsziel

Zu den drängendsten Problemen gehören sowohl Fragen der Unterbringung und des Wohnens als auch die Arbeitsmarktintegration. Ebenso stellen sich jedoch akut Fragen der Bildung, wozu gerade auch jene zur Beschulung von schulpflichtigen geflüchteten Kindern und Jugendlichen gehören. Auf die genannten Herausforderungen reagierte der Berliner Senat im März mit seinem Entwurf des Masterplans Integration und Sicherheit. Wenn die aktuelle »Flüchtlingsproblematik« nicht zu einem hausgemachten mittel- und langfristigen »Integrationsproblem« werden soll, muss auf die mit Abstand größte Gruppe der geflüchteten Menschen, der unter 18-Jährigen, ein besonderer Fokus gelegt werden. Die Herausforderung der Beschulung kann nicht nur in der Integration in die Regelklassen gesehen werden, sondern muss in einer stringenten systemischen Förderung Ausdruck finden. Dies fängt bei progressiven Konzepten wie JüL (Jahrgangsübergreifendes Lernen) und LaKo BSO (Landeskonzept für Berufs- und Studienorientierung) an und muss einhergehen mit einer interkulturellen Ausarbeitung jener Konzepte.

Ganz besonders in einer Metropole wie Berlin wächst das Bewusstsein für die Chancen einer von kultureller Diversität gekennzeichneten Gesellschaft. Mit der globalisierungsbedingten Pluralisierung wird die ethnische, kulturell-religiöse und die dadurch bedingte heterogene Wertehaltung unserer Gesellschaft weiter zunehmen. So ist absehbar, dass der konstruktive Umgang mit kultureller Vielfalt nicht nur eine Schlüsselqualifikation für KosmopolitInnen darstellt, viel mehr sich zum allgemeinen Bildungsziel einer jeden Persönlichkeitsentwicklung und zu einer Basiskompetenz in unserer Gesellschaft entwickelt und sich daraus das produktive Erleben kultureller Vielfalt speist. Im Zuge dieser Prozesse hat sich der Begriff »Interkulturelle Kompetenz« zu einem Schlagwort entwickelt, dessen inhaltliche Bedeutung und Dimensionen noch nicht abschließend definiert worden sind.

Integration braucht ein Konzept

Eine Bildungsinstitution, mit interkulturellem Anspruch darf nicht den Fokus auf eine gelungene Interaktion und Kommunikation von »Kollektivkonstruktionen«, wie zum Beispiel Nationalität, Religion und ethnische Gruppen legen. Interkulturelle Kompetenz, also das Zulassen von Vielfalt, legt den Fokus auf Interaktion von Individuen, statt auf strukturelle Systeme. Trotzdem erfolgt jede zwischenmenschliche Begegnung innerhalb eines Rahmens, der durch die Willensbildung und Normgebung in der entsprechenden Struktur gestaltet wird. Wenn dieser Rahmen dominiert wird durch entsprechende Machtverhältnisse, die Assimilation unter spezifischen Identitätskonzepten (Leitkultur) zur Grundlage haben und einhergehend Verteilungs- und Anerkennungskonflikte (Teilhabe) provozieren, kann der Ansatz einer integrativen Schulstruktur kaum in einer Weise verwirklicht werden, wie es heute mehr denn je von Nöten ist.

Ein diversitätssensibler Rahmen kann nur entstehen, wenn gesellschaftspolitische Maßnahmen zu Identitätskonzepten und einem Grundverständnis von gesamtgesellschaftlicher Chancengleichheit führen und sich mit ausnahmslos allen Mitgliedern einer Gesellschaft befasst und sich nicht mehr an dem Konstrukt einer kulturell homogenen Gruppe orientiert wird. Diesen Rahmen in einer von Diversität geprägten Gesellschaft zu gestalten, liegt in der Verantwortung der rahmenbildenden politischen und verwaltenden AkteurInnen.

Die anstehende Arbeit für Regierung und Verwaltung ist ein erster Aufschlag in Form eines Integrations- und Teilhabekonzeptes, welches alle in diesem Text angesprochenen Punkte verknüpft und in ein symbiotisches Verhältnis setzt. Dabei müssen klare Meilensteine und Zielvorstellungen verbindlich artikuliert werden, sodass eine Evaluation im zwei bis fünf Jahresturnus konsequent durchgeführt werden kann und auch Konsequenzen beziehungsweise entsprechende verbindliche Handlungskonzepte zur Folge hat.

Orkan Özdemir, SPD-Fraktion BVV Tempelhof-Schöneberg

 
 

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